Unter der Barrierefreiheit – auf englisch Accessibility – versteht man die Gestaltung von Angeboten, die auch von Menschen mit körperlichen Einschränkungen genutzt werden können. Der Begriff Angebote umfasst Bauwerke ebenso wie digitale und nicht-digitale Produkte. Das schließt auch Medizinprodukte (Geräte, App, stand-alone Software) mit ein.
Welche Anforderungen an die Accessibility Hersteller von Medizinprodukten beachten sollten, um der wachsenden Anzahl an Klagen zu entgehen, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Finden Sie heraus, wie ein Mensch mit Sehbehinderung eine Webseite „erfährt“.
1. Accessibility: Um was es geht
a) Definition „Barrierefreiheit“
Das Behindertengleichstellungsgesetz definiert den Begriff “Barrierefreiheit“ wie folgt:
„Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“
Quelle: Behindertengleichstellungsgesetz
Verfolgen Sie im nachfolgenden Video, wie ein Mensch mit Behinderungen eine Webseite mit einem Screenreader erfahren würde.
b) Scope der Barrierefreiheit (Accessibility)
Die Barrierefreiheit ist somit keinesfalls auf Gebäude beschränkt: Es geht um mehr als nur um Rampen und Fahrstühle für Rollstuhlfahrer. Vielmehr gilt es, möglichst jedem Menschen mit Einschränkungen die Teilhabe am Leben zu ermöglichen – möglichst ohne die Hilfe Dritter.
Die barrierefreie Nutzung soll beispielsweise folgenden Gruppen ermöglicht werden:
- Menschen mit Behinderungen (insbesondere mit sensorischen und motorischen Einschränkungen)
- Alte Menschen, deren Anzahl kontinuierlich wächst
- Kranke und Verletzte
- Menschen mit „anderen“ intellektuellen, sprachlichen oder kulturellen Eigenschaften
c) Folgen mangelnder Accessibility / Barrierefreiheit
Wenn immer es regulatorische Anforderungen gibt, finden sich auf der einen Seite Menschen und Institutionen, die dagegen verstoßen, und auf der andere Seite Menschen, die gegen diese Verstöße klagen.
So steigt die Anzahl der entsprechenden Gerichtsverfahren in den USA kontinuierlich – im Jahr 2016 um 37%.
Einer der Haupttreiber dieses Wachstums sind digitale Angebote.
Als Medizinproduktehersteller sollten Sie Ihre Angebote wie Webseiten und Apps, speziell jene, die sich an Laien wenden, barrierefrei gestalten, um Klagen zu vermeiden.
2. Regulatorische Anforderungen an die Barrierefreiheit
a) Regulatorische Anforderungen in Europa
2019 trat die EU-Richtlinie 2019/882 „über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen“ in Kraft. Hersteller müssen deren Anforderungen ab dem 28. Juni 2025 erfüllen.
Betroffene Produkte
Die EU hat die Anforderungen an die Barrierefreiheit auf einige Produkte und Dienstleistungen ausgeweitet, und zwar unabhängig davon, ob diese von öffentlichen Stellen bereitgestellt werden oder nicht. Die meisten dieser Angebote umfassen keine Medizinprodukte wie Geldautomaten, E-Book-Lesegeräte oder Bankdienstleistungen.
Allerdings kann es in Einzelfällen Medizinprodukte geben, welche möglicherweise in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.
Formulierung im Gesetz | Mögliche Relevanz für Medizinprodukte |
Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für elektronische Kommunikationsdienste verwendet werden | System zur Unterstützung der Kommunikation zwischen Arzt und Patient |
elektronische Kommunikationsdienste (das sind gemäß Richtlinie (EU) 2018/1972 z.B. Internetzugangsdienste oder interpersonelle Komunikationsdienste) | Elemente der Telematikinfrastruktur (falls diese als Medizinprodukt zählen) |
Beantwortung von an die einheitliche europäische Notrufnummer 112 gerichteten Notrufen. | Systeme für Notfallzentralen (falls Medizinprodukt) |
Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr | Webbasierte Gesundheitsangebote, die online angeboten oder vertrieben werde |
Die Definition von „Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr“ lautet:
Dienstleistungen der Telemedien, die über Webseiten und über Anwendungen auf Mobilgeräten angeboten werden und elektronisch und auf individuelle Anfrage eines Verbrauchers im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrags erbracht werden;
Viele Medical Apps und webbasierte Medizinprodukte führen (implizit) zu einem Verbrauchervertrag und fielen damit unter den Anwendungsbereich der Richtlinie
Anforderungen
Die Anforderungen an die Barrierefreiheit nennt die Richtlinie im Anhang I. Dazu zählen beispielsweise:
- Informationen zur Nutzungs des Produkts müssen übe mehr als einen sensorischen Kanal zur Verfügung gestellt wreden
- Angemessene Schrift und Schriftgröße
- Alternative Darstellung von „Nicht-Text-Inhalten“
- Verständliche Sprache
Umsetzung
Die Richtlinie gibt im Anhang II auch Vorschläge, um den Anforderungen zu genügen:
- Bereitstellung elektronischer Dateien, die über einen Computer mit Screenreader vorgelesen werden können, sodass blinde Menschen diese Informationen nutzen können
- Konsequente bzw. klar und logisch strukturierte Verwendung derselben Begriffe, sodass Menschen, die eine geistige Beeinträchtigung haben, sie besser verstehen können
- Bereitstellung einer Untertitelung von Anleitungsvideos
- Möglichkeit, Text oder ein bestimmtes Piktogramm zu vergrößern oder den Kontrast zu erhöhen, sodass sehbehinderte Menschen die Informationen wahrnehmen können
- Bei einem Computer nicht nur Ausgabe eines Fehlersignals, sondern auch schriftlicher oder bildlicher Hinweis auf den Fehler, damit Gehörlose verstehen können, dass ein Fehler vorliegt
b) Regulatorische Anforderungen in Deutschland
Zahlreiche Gesetze und Verordnungen verfolgen das Ziel, die „Accessibility“ zu erhöhen. Dazu zählen:
Beispielsweise fordert die BTIV Folgendes:
- Es müssen alternative CAPTCHAs bereitstehen
- Für Video-Dateien müssen Text-Alternativen oder eine Tonspur mit gleichwertigen Informationen bereitstehen
- Farbe darf nicht als einziges Mittel zur Kodierung verwendet werden
- Der Text muss um 200% vergrößert werden können, ohne dass es zu einem Verlust von Funktionalität oder Inhalt kommt
- Die gesamte Benutzerproduktschnittstelle muss sich ausschließlich über die Tastatur bedienen lassen
Andere europäische Staaten haben vergleichbare Anforderungen. Beispielsweise fordert Großbritannien im Equality Act 2010 ebenfalls die Barrierefreiheit.
c) Regulatorische Anforderungen in den USA
Das wichtigste Gesetz mit Bezug zur „Accessibility“ in den USA ist der „The Americans with Disabilities Act“ (kurz ADA). Eigentlich reguliert dieses Gesetz v.a. bauliche Anlagen staatlicher Institutionen sowie den öffentlichen Raum. Allerdings dehnen die „Anwälte“ den „Public Space“ auch auf das Internet und damit auf öffentliche Webseiten wie z.B. die von Fluglinien oder Online-Händlern aus.
Man überträgt also den Anspruch auf Barrierefreiheit auf digitale Angebote. Speziell dafür fühlen sich auch die überarbeiteten Section 508 Guidelines zuständig. Diese Vorschriften betreffen zunächst die digitalen Angebote der staatlichen Institutionen. Doch leitet man auch hieraus Anforderungen an kommerzielle / öffentliche Angebote ab.
Interessant ist, dass das Gesetz konkrete Standards (z.B. des W3C) referenziert.
3. Accessibility-Standards
a) Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 des W3C
Der bekannteste und am meisten referenzierte Standard stammt vom W3C-Konsortium, das auch für Standardisierung von HTML, CSS und XML verantwortet. Dieser Standard sind die W3C’s Web Content Accessibility Guidelines, or WCAG 2.0.
Sie stellen nicht nur wie die BITV (s.o.) Anforderungen beispielsweise an die Bedienbarkeit ohne Maus oder an Texte als Alternative zu Videos oder Bildern. Die WCAG geben anhand von über 60 Aspekten vor, wie diese Anforderungen bei Web-Angeboten konkret umgesetzt werden können.
Das W3C zeigt sogar ein Vorher-Nachher-Beispiel, anhand dessen man nachvollziehen kann, wie man eine schlechte Webseite in eine gute überführt.
b) ISO 9241
Die ISO 9241-Normenfamilie stellt Anforderungen an die Gestaltung von Benutzer-Produkt-Schnittstellen. Davon profitieren Menschen mit und ohne Einschränkungen gleichermaßen. Dazu zählen Anforderungen an die
- Informationsdarstellung
- Gestaltung von Formularen
- Gestaltung von Benutzungsschnittstellen für das WWW
- Benutzerführung
- Farbdarstellung
- Dialoggestaltung
Die ISO 9241 hat die Accessibility allerdings nicht im Fokus. Sie wird aber von der IEC 62366 referenziert.
c) Weitere Richtlinien
Der BBC setzt sich stark mit dem Thema Barrierefreiheit auseinander und hat dazu HTML guidelines und Mobile Accessibility guidelines veröffentlicht.
d) Spezielle Anforderungen an Medizinprodukte(hersteller)
Die IEC 62366-1 behandelt das Thema Barrierefreiheit nicht explizit. Sie fordert „nur“, dass die Hersteller die Anwender charakterisieren (u.a. bzgl. körperlicher Einschränkungen) und die Benutzer-Produkt-Schnittstellen entsprechend gestalten. Gleiches gilt für die FDA und deren Human Factors Engineering Guidance.
Medizinproduktehersteller sollten nicht nur (falls relevant) ihre Medizinprodukte, sondern auch ihre anderen Angebot wie Webseiten barrierefrei gestalten.
4. Accessibility verbessern
a) Motivation
Medizinproduktehersteller sollten die Barrierfreiheit ihrer Produkte sicherstellen, um
- die gesetzlichen Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit für Menschen mit Einschränkungen zu erfüllen (à la IEC 62366, FDA, MDD, MDR),
- die gesetzlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit im Allgemeinen zu erfüllen und entsprechende Klagen zu vermeiden,
- Risiken zu minimieren, die sich ergeben, wenn Menschen mit Einschränkungen die Produkte nutzen und
- den Markterfolg zu erhöhen, beispielsweise dadurch, dass die wachsende Anzahl älterer Anwender das Produkt einfach nutzen kann und will.
b) Wissen, welche Tools Menschen mit Behinderung verwenden
Menschen mit Einschränkungen stehen zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung, um digitale Angebote nutzen zu können:
Diese Werkzeuge setzen voraus, dass die digitalen Angebote möglichst barrierefrei gestaltet sind. Beispielsweise setzt ein Screen Reader voraus, dass eine Webseite mit Überschriften (h1 – h6) strukturiert ist. Tabellen zur Formatierung sind hingegen kontraproduktiv.
c) Barrierefreiheit prüfen
Folgende Methoden sind hilfreich, um die Barrierefreiheit von Produkten (inkl. Webseiten) zu bewerten:
- Inspektion mit Usability-Experten
- Visuelles Prüfen gegen die Spezifikationen z.B. der o.g. Standards (Usability-Verifizierung)
- Arbeiten ohne Maus
- Arbeiten ohne Monitor und mit Screen Reader
- Werkzeug-unterstütztes Vermessen von Schriftgrößen, Farben und Kontrastverhältnissen
- Teilnehmende Beobachtung von Menschen mit Einschränkungen: Das wäre eine Usability-Validierung (= summative Bewertung) mit repräsentativen Benutzern in einem repräsentativen Benutzungskontext.
Die Prüfberichte liegen meist in folgender Form vor:
- Kurzer Bericht mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und Empfehlungen
- Detaillierte tabellarische Darstellung
- Nummer des Problems
- Beobachung, Problem
- Schwere
- Verletzte Regel
- Empfehlung
Das Johner Institut prüft in seinen Usability Labs in Deutschland und den USA die Barrierefreiheit von (Medizin-)Produkten. Es hilft Ihnen rasch und kostengünstig, Probleme zu identifizieren, zu beheben und die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen.
Kontakt aufnehmen
d) Werkzeuge verwenden
Die Usability-Experten bedienen sich beispielsweise folgender Werkzeuge:
5. Fazit
Medizinproduktehersteller müssen nicht nur spezifische Gesetze für Medizinprodukte beachten, sondern auch Regularien, die sich an alle Produkte und Angebote richten. Dazu zählen die Anforderungen an die Barrierefreiheit (Accessibility).
Sie sollten neben Ihren Produkten auch andere Angebote wie Webseiten gesetzeskonform gestalten.
Die Anforderungen an die Barrierefreiheit sind klar benannt und lassen sich schnell prüfen.
Diese Prüfungen helfen dabei, auch Probleme mit der Gebrauchstauglichkeit rasch zu finden und zu beseitigen, die nicht spezifisch für Menschen mit Einschränkungen sind.
Änderungshistorie
- 2024-09-26: Artikel neu strukturiert, Kapitelnummern eingefügt, Kapitel 3.a) eingefügt (EU-Richtlinie
- 2017-03-21: Erste Version erstellt (Dank an Dana Douglas für wertvollen Input)