Es war nichts weniger als eine „Wende“, die Olaf Scholz im Februar 2022 verkündete. Wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine kündigte die Kanzlerin an, dass für die Bundeswehr ein Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro eingerichtet werde.

Zwei Jahre nach Scholz‘ historischer Rede wäre es an der Zeit, endlich öffentlich nachzuvollziehen, wie es zu dieser Wende in der deutschen Außenpolitik kam.

Um die Frage zu beantworten, welche Entscheidungsprozesse hinter dem riesigen Sondervermögen der Bundeswehr stecken, haben wir beim Bundeskanzleramt sämtliche Unterlagen zum Thema angefordert. Da die Behörde unseren Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) ablehnte, reichten wir Klage ein. Nun entschied das Gericht, dass die Unterlagen nicht herausgegeben werden müssen.

Überschaubare Dateisituation

Konkret handelt es sich um drei sogenannte Zeilenvorlagen, die alle vor Beginn der russischen Invasion erstellt wurden und als Verschlusssache „nur für den offiziellen Gebrauch“ eingestuft sind, sowie einen Entwurf der Rede der Kanzlerin. Zu den Stichworten „Sondervermögen“, „Wendepunkt“ und „Verteidigungshaushalt“ konnte das Bundeskanzleramt keine weiteren Dokumente finden. Mit anderen Worten: Die historische Entscheidung, einen Sonderfonds mit 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr einzurichten, soll auf lediglich drei Dokumenten im Bundeskanzleramt basieren.

Im schriftlichen Verfahren begründete das Bundeskanzleramt die sehr überschaubare Aktenlage damit, dass sich der Bundeskanzler bereits während seiner Zeit als Bundesminister der Finanzen intensiv mit diesen Themen beschäftigt habe. Darüber hinaus werden die Gespräche des Bundeskanzlers auf höchster politischer Ebene nicht unbedingt aufgezeichnet. Allein das sind interessante Informationen, die viele kritische Fragen aufwerfen.

Das Gericht schien zunächst auch nicht davon überzeugt zu sein, dass es für eine so wichtige Entscheidung nur eine so geringe Anzahl vorbereitender Dokumente gab. Sowohl im Erörterungsgespräch als auch schriftlich wurde um Nachweise gebeten, dass auf Grundlage unseres IFG-Antrags bei den zuständigen Fachbereichen und der Führungsebene nachgefragt wurde, welche Unterlagen vorliegen. Zur mündlichen Verhandlung erschienen die Vertreter des Bundeskanzleramtes ohne jegliche Beweise. Aber das hatte keine Konsequenzen.

Das Gericht stützte sich zudem überraschend stark auf bloße Behauptungen des Bundeskanzleramts. Das Bundeskanzleramt argumentierte, dass die fraglichen Führungsvorlagen Informationen über die aktuelle Ausrüstung und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr enthielten. Sollten diese Informationen öffentlich werden, hätte dies negative Auswirkungen auf die Abschreckungsfähigkeit der NATO. Obwohl die ganze Welt seit dem Ukraine-Krieg ausführlich über die Ausrüstung und Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr diskutiert, oft unter Bezugnahme auf konkrete Zahlen und Fakten, reichten dem Gericht diese allgemeinen Aussagen aus. Es ist angemessen, dass die Dokumente geheim gehalten und daher nicht freigegeben werden.

Gericht erweitert Ablehnungsgrund

Der Entwurf der Rede von Olaf Scholz muss noch nicht veröffentlicht werden. Brisant ist, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen Ablehnungsgrund stützt, der im Informationsfreiheitsgesetz nicht enthalten ist: den Schutz des Kernbereichs exekutiven Regierungshandelns. Dies spielt in der Regel bei parlamentarischen Anfragen eine Rolle und soll sicherstellen, dass die Regierung in sensiblen Bereichen nicht von Abgeordneten untersucht werden kann und handlungsfähig bleibt.

Nach Angaben des Bundeskanzleramts muss der Redeentwurf so dringend geschützt werden, dass nicht einmal die Mitarbeiter, die das Kanzleramt im Gerichtsverfahren vertreten, ihn einsehen dürfen. Aus diesem Grund hätte niemand im Kanzleramt den Redeentwurf auf Grundlage unserer IFG-Anfrage einsehen können, um zu beurteilen, ob das Dokument sensible Informationen enthielt.

Reden sollten nicht systematisch im Kanzleramt und in der ausschließlich für Reden und Texte zuständigen Abteilung abgelegt werden. Das erklärten Vertreter des Bundeskanzleramts im Prozess. Obwohl sie versuchten, an die Dokumente zu gelangen, scheiterten sie an ihrer eigenen Autorität.

Kalkulierter Rechtsverstoß im Verfahren

Dieses Verhalten war im Kanzleramt bereits bei der Bearbeitung unserer IFG-Anfrage Teil der Strategie. Dies geht aus Unterlagen zum Verfahren hervor. In einem Brief an den Chef des Bundeskanzleramtes heißt es, dass das Redemanuskript nur dann auf sensible Informationen überprüft werde – also darauf, ob es möglicherweise freigegeben werden könne –, wenn ein Gericht dies erzwinge. Dem Schreiben zufolge weiß das Kanzleramt, dass eine solche Prüfung nach einer IFG-Anfrage tatsächlich verpflichtend ist. Das Schreiben enthält auch die Empfehlung, künftige IFG-Anfragen zu diesem Thema abzulehnen.

Das Gericht ließ dem Bundeskanzleramt dieses Verhalten durchgehen. Das bedeutet, dass sämtliche Informationen über die „Wende“ Deutschlands vorerst der Öffentlichkeit entzogen werden. Dieses Vorgehen zeigt auch, wie gut Behörden davonkommen, sich hinter Ignoranz und Tatenlosigkeit zu verstecken.

Wir sind der Meinung, dass diese Strategie nicht zur gängigen Praxis werden sollte. Deshalb kämpfen wir weiter und werden gegen das Urteil Berufung einlegen.

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→ Zum Urteil

→ FragDenStaat-Kolumne „Akteneinsicht“ bei Legal Tribune Online: Keine Wende für Transparenz

→ Zur Berichterstattung der Berliner Zeitung



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