Es ist einer der wichtigsten Akteure der europäischen Migrationspolitik – doch kaum jemand kennt es: das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD). Sie arbeitet daran, die EU-Außengrenzen in Richtung Drittstaaten zu verschieben, unterstützt nordafrikanische Küstenwachen, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, und baut in Bosnien eine Haftanstalt für Flüchtlinge ohne Genehmigung auf. Darüber haben wir bereits im Mai 2023 mit dem ZDF Magazin Royale berichtet. ICMPD erhält hauptsächlich Gelder von der EU und anderen europäischen Ländern. Und mit diesem Geld geht die Organisation teils recht fragwürdig um.

Unsere jüngste Untersuchung gemeinsam mit der österreichischen Zeitung Der Standard und dem Schweizer Forscherkollektiv WAV bringt Licht auf Korruptionsvorwürfe bei einem von der Schweiz mit 1,2 Millionen Euro finanzierten Projekt in Bosnien und Herzegowina. Das ICMPD war für das Projektmanagement und die Ausschreibung verantwortlich. Der Vorwurf stützt sich nicht nur auf unsere eigenen Recherchen, sondern auch auf einen externen Bericht im Auftrag des Schweizerischen Staatssekretariats für Migration (SEM), den wir veröffentlichen. Darin heißt es, dass das ICMPD der Korruption den Weg bereitet habe, weil es sich nicht an seine eigene Antikorruptionsklausel gehalten habe.

Millionen Euro von der EU

Das ICMPD besteht seit mehr als 30 Jahren. Doch erst als der ehemalige österreichische Vizekanzler Michael Spindelegger 2016 Generaldirektor wurde, gewann das ICMPD an Einfluss – und damit auch an Kapital – in der europäischen Migrationspolitik. Lag das Jahresbudget der Organisation vor Spindeleggers Amtsantritt im Jahr 2015 bei 16,8 Millionen Euro, hat es sich im Jahr 2023 auf rund 79 Millionen Euro mehr als vervierfacht.

Mehr als die Hälfte des ICMPD-Budgets stammt aus Beiträgen der Europäischen Kommission. Der Rest kommt aus EU-Mitgliedstaaten, Migrationstransitländern und Herkunftsländern von Flüchtlingen – den Mitgliedern des ICMPD. Das Geld ist meist an konkrete Projekte gebunden. Das ICMPD erhält Geld für die Vernetzung von Ländern, die Bereitstellung von Input und die Organisation von Projekten. Dies ist auch bei einem von der Schweiz finanzierten Projekt in Bosnien der Fall.

Der Auftrag ist Teil eines Großprojekts: In Bosnien und Herzegowina, einem der wichtigsten Transitländer auf der Flüchtlingsroute in die EU, soll ein „Migrationsinformationssystem“ aufgebaut werden. Auch die EU fördert den Ausbau dieses Datenmanagementsystems. Ziel ist es, den Datenaustausch zu Asyl, Visa und Grenzübertritten zwischen bosnischen Behörden und internationalen Institutionen wie Frontex zu verbessern.

Ein Experte bei zwei Arbeitgebern

Die Schweiz und das ICMPD haben im November 2021 den Projektvertrag unterzeichnet. Es wird ein „Steering Committee“ bestehend aus Vertretern des ICMPD, des Schweizer Staatssekretariats für Migration und des bosnischen Sicherheitsministeriums gebildet. Gleich zu Beginn schlägt das bosnische Sicherheitsministerium vor, einen externen Experten mit der technischen Ausschreibung des IT-Auftrags zu beauftragen. Dies geht aus einem Berichtsentwurf des ICMPD hervor, den wir veröffentlichen.

Berichtsentwurf des ICMPD

„Mos“ ist die Abkürzung für das bosnische Sicherheitsministerium. Sie schlägt vor, einen externen Experten mit der Erstellung der Ausschreibung zu beauftragen.

Gleichzeitig macht das bosnische Sicherheitsministerium einen klaren Vorschlag, wer die Expertenstelle besetzen soll, heißt es in dem Schweizer Bericht. Das ICMPD ernennt diese Person im Februar 2022 – ohne umfangreiche Prüfung, wie sich später zeigen wird. Nach einem Monat hat der Gutachter die Ausschreibung finalisiert, diese wird veröffentlicht und der Auftrag über rund 400.000 Euro an das IT-Unternehmen Page doo vergeben. Was zu diesem Zeitpunkt jedoch unbemerkt bleibt: Der Gutachter ist ein Mitarbeiter von Page.

Fortsetzung trotz Interessenkonflikt

Doch im Juni 2022 zog der Projektveranstalter die Ausschreibung zurück. Der Grund: Das Angebot von Page sei zu hoch gewesen, heißt es im Schweizer Bericht. Der Auftrag wird erneut ausgeschrieben. Erneut bewarb sich das IT-Unternehmen Page, dieses Mal als einziger Bieter. Page erhält erneut den Zuschlag. Bei der endgültigen Auftragsvergabe äußern drei Mitglieder des Lenkungsausschusses Bedenken hinsichtlich des Gutachters, der die Ausschreibung verfasst hat. Sie kritisieren, dass der Mann inzwischen bei dem IT-Unternehmen gearbeitet habe, das den Zuschlag erhalten hatte. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er bereits bei Page angestellt war, als er die Ausschreibung verfasste.

Externer Bericht im Auftrag der Schweiz

Externer Bericht im Auftrag der Schweiz

Drei Mitglieder des Lenkungsausschusses äußern Bedenken hinsichtlich des Experten, der die Ausschreibung verfasst hat.

Bosnischen Medien zufolge ist der Gründer von Page doo zudem ein ehemaliger Beamter des Sicherheitsministeriums und ein enger Vertrauter des stellvertretenden Sicherheitsministers Samir Rizvo. Rizvo sitzt als Vertreter des Sicherheitsministeriums im Lenkungsausschuss des Projekts und ist maßgeblich an der Planung beteiligt. Samir Rizvo, Page und der betroffene Mitarbeiter antworteten nicht auf unsere Anfragen.

Begründeter Korruptionsverdacht

Das Projekt wird von ICMPD mit Page doo allen Bedenken zum Trotz umgesetzt – bis ein Whistleblower im Februar 2023 Korruptionsvorwürfe an die Schweizer Botschaft in Bosnien und Herzegowina meldet. Nach Untersuchung der Vorwürfe beendete die Schweiz das Projekt mit ICMPD im Juni 2023. Laut der Aufgrund des Gutachtens eines externen Sachverständigen war der Korruptionsverdacht begründet: ICMPD hatte den Sachverständigen und das Unternehmen nicht ausreichend geprüft und Hinweisen auf einen Interessenkonflikt nicht nachgegangen. Das Schweizer Staatssekretariat für Migration schrieb auf Nachfrage: „Die [Swiss State Secretariat for Migration] hat das Vergabeverfahren als rechtswidrig beurteilt.“

„Das ICMPD hat nichts unternommen, um den Interessenkonflikt zu untersuchen, nachdem es Informationen über eine direkte Verbindung zwischen der STE, die die Ausschreibung erstellt hat, und dem Unternehmen erhalten hat, das den Zuschlag erhalten hat, und daher kann nicht gesagt werden, dass das ICMPD in gutem Glauben gehandelt hat.“ im Einklang mit den Antikorruptionsbestimmungen aus Artikel 13 der Vereinbarung.“

Im Jahr 2023 äußerte sich ICMPD nicht aktiv dazu, warum das Schweizer Projekt abgebrochen wurde. Erst Mitte Juli 2024, als wir bereits viele Anfragen gestellt hatten, erschien in einem Nachrichtenagenturbericht folgende Aussage von ICMPD: Das Schweizer Projekt sei aufgrund eines möglichen Interessenkonflikts vorzeitig abgebrochen worden. Allerdings ergab eine interne Untersuchung laut ICMPD „keine offensichtlichen Unregelmäßigkeiten“ – ein deutlich anderes Ergebnis als die extern beauftragte Untersuchung der Schweizer Behörden, die in der Stellungnahme nicht erwähnt wird.

Der Migrationsforscher und Experte für biometrische Migrationsprogramme Simon Noori ist nicht überrascht, dass in ICMPD-Projekten Korruptionsvorwürfe erhoben werden. Die Outsourcing-Politik europäischer Staaten entstehe einen Kreislauf zwischen Behörden, internationalen Organisationen und dem Privatsektor, der Korruption tatsächlich begünstige, erklärt er im Interview mit unseren Kollegen von WAV. Der ständige Austausch zwischen Staat, Beratungsunternehmen und Industrie ist ein Nährboden für Vetternwirtschaft. Generell hält Noori den Nutzen solcher Programme für minimal: „Kontrolle wird versprochen, aber wenig erreicht.“ „Letztendlich wird bei diesen Programmen Geld verschwendet, das woanders sinnvoller eingesetzt werden könnte.“

Ein Sohn, sein Vater, ein Projekt

Die Zusammenarbeit mit Page doo scheint nicht die einzige zweifelhafte Beteiligung von ICMPD in Bosnien und Herzegowina zu sein, wie unsere Recherche zeigt. Im April 2022 wurde der Sohn des stellvertretenden Sicherheitsministers Samir Rizvo, Bekir Rizvo, vom ICMPD als externer Berater eingestellt.

Bekir Rizvo erstellt die Ausschreibung für das „Detention Center“ im Flüchtlingslager in Lipa nahe der kroatischen Grenze und hilft bei der dazugehörigen Budgetplanung. Das zeigen interne Dokumente, die wir veröffentlichen. Das Projekt und das Lager stehen unter der Leitung des Ministeriums seines Vaters, Samir Rizvo. Bekir Rizvo und Samir Rizvo antworteten nicht auf unsere Anfragen.

Arbeitszeitnachweis von Bekir Rizvo

Arbeitszeitnachweis von Bekir Rizvo

Im Mai 2022 soll Bekir Rizvo, der Sohn des stellvertretenden Sicherheitsministers, am Bau des „Haftzentrums“ im Lager für Flüchtlinge in Lipa mitgewirkt haben.

Auf die Frage nach einem Interessenkonflikt gab uns das ICMPD eine ausweichende Antwort: Rizvo sei lediglich „Projektassistent auf Einstiegsniveau“ und habe „logistische Unterstützung bei Projektaktivitäten“ geleistet. Er war während der internen Untersuchung suspendiert worden.

Über das von Stacheldraht umgebene Internierungslager wurde im vergangenen Jahr viel berichtet. Es wurde 2023 ohne Genehmigung an einer Stelle errichtet, an der eigentlich eine Sportanlage geplant war. Die EU-Kommission zahlte für den Bau 500.000 Euro Steuergelder, obwohl dies vom Lagerleiter nie gefordert wurde. Auch der bosnische Menschenrechtsminister lehnte das „Haftzentrum“, wie er das Gebäude nannte, deutlich ab. Die Abschiebehaftanstalt wurde noch immer nicht in Betrieb genommen, obwohl die EU-Kommission dafür eine halbe Million Euro ausgezahlt hat.

→ Klicken Sie hier für den Text in der Tageszeitung Der Standard
→ Klicken Sie hier für den Text des Forschungskollektivs WAV im Magazin Suprise

Der externe Bericht, der im Auftrag des Schweizerischen Staatssekretariats für Migration (SEM) erstellt wurde, wurde von Journalisten des Recherchekollektivs WAV über das Informationsfreiheitsgesetz eingeholt und mit uns geteilt. Unsere Kollegen von WAV haben auch Dokumente zu anderen ICMPD-Projekten im Kosovo, im Libanon und in Libyen veröffentlicht, die von der Schweiz finanziert wurden. Wir veröffentlichen diese auch.

Wir veröffentlichen auch eine Reihe anderer Dokumente, die wir unabhängig von den Anfragen gemäß dem Freedom of Information Act erhalten haben. Um die Echtheit der Dokumente zu überprüfen, haben wir verschiedene Methoden eingesetzt: Unter anderem haben wir uns bei den Beteiligten erkundigt, öffentliche Informationen inhaltlich überprüft und mit anderen uns vorliegenden Dokumenten abgeglichen. Bis auf wenige Ausnahmen haben wir personenbezogene Daten redigiert.



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