Die korrekte und präzise Formulierung der Zweckbestimmung von Medizinprodukten und In-Vitro-Diagnostika (IVD) ist entscheidend für deren erfolgreiche Entwicklung und Zulassung. Doch bereits die Begriffsdefinitionen und die Abgrenzung von Zweckbestimmung und bestimmungsgemäßem Gebrauch erschweren die notwendige Klarheit und Präzision.
Doch dieser Artikel verrät, wie Sie eine Zweckbestimmung formulieren, um Schwierigkeiten bei Audits und Zulassungen zu vermeiden.
1. Relevanz der Zweckbestimmung
Mit der Zweckbestimmung drückt der Hersteller aus, zu welchem (medizinischen) Zweck sein Produkt angewendet werden soll. Diese Festlegung ist die Voraussetzung für viele Aktivitäten bei der Entwicklung und bei der Zulassung:
- Qualifikation des Produkts, d.h. die Entscheidung, ob es ein Medizinprodukt bzw. ein IVD ist,
- Klassifizierung des Medizinprodukts/IVDs gemäß MDR oder IVDR,
- Entscheidung, welche Normen bei der Produktentwicklung berücksichtigt werden müssen,
- Spezifikation des Produkts und seiner Leistungsparameter,
- Abgrenzung des normalen und abnormalen Gebrauchs (Ableitung der Use Specifications),
- Produktspezifisches Risikomanagement (Risikomanagementplan inkl. der Herleitung der Risiko-Akzeptanz-Matrix sowie die Risikoanalyse),
- Durchführen der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung, die nachweisen muss, dass der Zweck und der medizinische Nutzen erfüllt wurde, und
- Schreiben des Post-Market-Surveillance-Plans, der festlegt, wie das Erreichen der Zweckbestimmung im Feld überwacht wird.
Es ist die Aufgabe und die Freiheit des Herstellers, die Zweckbestimmung festzulegen.
2. Definitionen des Begriffs „Zweckbestimmung“
Bedauerlicherweise gibt es keine einheitliche Definition des Begriffs „Zweckbestimmung“. Zudem setzen viele Definitionen die „Zweckbestimmung“ (Intended Purpose) und den „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ (Intended Use) gleich.
Dieses Kapitel stellt die relevanten Definitionen vor. Das darauffolgende Kapitel grenzt die Zweckbestimmung und den bestimmungsgemäßen Gebrauch voneinander ab.
a) Definition gemäß MDR bzw. IVDR
„’Zweckbestimmung‘ bezeichnet die Verwendung, für die ein Produkt entsprechend den Angaben des Herstellers auf der Kennzeichnung, in der Gebrauchsanweisung oder dem Werbe- oder Verkaufsmaterial bzw. den Werbe- oder Verkaufsangaben und seinen Angaben bei der klinischen Bewertung bestimmt ist;“ (MDR Artikel 2 (12))
„‘Zweckbestimmung‘ bezeichnet die Verwendung, für die ein Produkt entsprechend den Angaben des Herstellers auf der Kennzeichnung, in der Gebrauchsanweisung oder dem Werbe- oder Verkaufsmaterial bzw. den Werbe- oder Verkaufsangaben oder seinen Angaben bei der Leistungsbewertung bestimmt ist;“ (IVDR Artikel 2 (12))
Auch die MDR/IVDR übersetzt den Begriff „Zweckbestimmung“ im Englischen als „Intended Purpose„.
Neben dem Begriff „Zweckbestimmung“ arbeitet die MDR/IVDR auch mit dem Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ („Intended Use“). Beide Verordnungen definieren diesen Begriff aber nicht. Er entspricht dem „bestimmungsgemäßen Gebrauch“.
b) Definition in der IEC 60601-1
Die IEC 60601-1 definiert den Begriff „Zweckbestimmung“ als die „Anwendung eines Produkts, Prozesses oder einer Dienstleistung nach den vom Hersteller gelieferten Spezifikationen, Anweisungen und Informationen“ (IEC 60601-1:2005, 3.44).
c) Definition in der ISO 14971
Die ISO 14971 hat in ihrer dritten Ausgabe (ISO 14971:2019) die Definition des Begriffs überarbeitet. Sie setzt allerdings Intended Use und Intended Purpose gleich. Doch deutet die Anmerkung darauf hin, dass eher der medizinische Zweck gemeint ist.
„use for which a product, process or service is intended according to the specifications, instructions and information provided by the manufacturer
Note 1 to entry: The intended medical indication, patient population, part of the body or type of tissue interacted with, user profile, use environment, and operating principle are typical elements of the intended use“ (ISO 14971:2019, 3.6)
d) Definition der FDA
Die FDA definiert den Begriff „Intended Use“ im 21 CFR part 801.4 wie folgt:
„The words intended uses […] refer to the objective intent of the persons legally responsible for the labeling of an article (or their representatives). The intent may be shown by such persons‘ expressions, the design or composition of the article, or by the circumstances surrounding the distribution of the article. This objective intent may, for example, be shown by labeling claims, advertising matter, or oral or written statements by such persons or their representatives. Objective intent may be shown, for example, by circumstances in which the article is, with the knowledge of such persons or their representatives, offered or used for a purpose for which it is neither labeled nor advertised; provided, however, that a firm would not be regarded as intending an unapproved new use for a device approved, cleared, granted marketing authorization, or exempted from premarket notification based solely on that firm´s knowledge that such device was being prescribed or used by health care providers for such use […]” (21 CFR part 801.4).
3. Abgrenzung zum bestimmungsgemäßen Gebrauch
Der Begriff „Zweckbestimmung“ im weiteren Sinn umfasst bei Medizinprodukten und IVD streng genommen mehrere Aspekte:
- Der eigentliche medizinische Zweck („medizinische Zweckbestimmung“ oder Zweckbestimmung im engeren Sinn), d.h. welche Krankheit oder welche Verletzung diagnostiziert, therapiert oder überwacht werden soll.
- Die medizinische Anwendung bestimmt den medizinischen Kontext. Das bedeutet die Bestimmungen, welche Anwender in welchem Nutzungskontext das Produkt für welche Patienten anwenden.
- Der (sonstige) bestimmungsgemäße Gebrauch legt fest, wie insgesamt bzw. zusätzlich mit dem Produkt umgegangen werden soll. Das umfasst die Lagerung, den Transport, das Update oder die Reinigung des Produkts.
Die MDR bzw. die IVDR spricht statt vom „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ von der „bestimmungsgemäßen Verwendung“. Beide Begriffe sind synonym zu verstehen.
4. Regulatorische Anforderungen
Es gibt mehrere Regularien, die Sie in diesem Kontext beachten sollten:
- Die MDR und die IVDR fordern die Festlegung der Zweckbestimmung als Teil der technischen Dokumentation (siehe Kapitel 5).
- Die ISO 13485 fordert in 7.3.7: „Eine Entwicklungsvalidierung muss […] sicherstellen, dass das resultierende Produkt in der Lage ist, die Anforderungen für die festgelegte Anwendung oder den bestimmungsgemäßen Gebrauch zu erfüllen.“ Das setzt voraus, dass diese bekannt sind.
- Die ISO 14971, die für das Risikomanagement harmonisierte Norm, setzt in Kapitel 5.2 die Zweckbestimmung für die weitere Risikoanalyse voraus.
- Die IEC 62366-1 verlangt in Kapitel 5.1 die Erstellung einer „Use Specification“, dessen Zusammenfassung von manchen Behörden als Zweckbestimmung bezeichnet wird.
- Die IEC 60601-1 setzt eine genaue Spezifikation der Anwendungsumgebung voraus, die beispielsweise physikalische Parameter wie Temperatur, Höhe / Luftdruck, Helligkeit ebenso umfasst wie die Versorgungsspannung(en) und den Verschmutzungsgrad.
5. Inhalte einer Zweckbestimmung
5.1 Zweckbestimmung eines Medizinproduktes
Adressieren Sie anlehnend an MDR Anhang I, Kapitel III, 23.4 b) sowie Anhang II 1.1 a) in Ihrer Zweckbestimmung folgende Aspekte:
- Medizinischer Zweck: Welche Krankheit oder welche Verletzung soll diagnostiziert, therapiert, überwacht, gelindert oder vorhergesagt werden?
- Medizinische Indikation und Kontraindikation
- Vorgesehene Patientengruppe(n)
- Vorgesehenes Körperteil
- Vorgesehene Anwender
- Vorgesehene Gebrauchsumgebung bzw. Nutzungsumgebung
- Physikalische Umgebung, z.B. Helligkeit, Lärm, Verschmutzung
- Soziale Umgebung, z.B. Stress, Schichtbetrieb
- Technische Umgebung, z.B. Werkzeuge, Software
- Klinische Umgebung, z.B. steril, Tragen von Schutzausrüstung
- Funktionsweise
5.2 Zweckbestimmung eines IVD
Die Inhalte der Zweckbestimmung eines IVD sind in Anhang I, Kapitel III, 20.4.1 c) sowie im Anhang II 1.1 c) der IVDR klar vorgegeben. Die Zweckbestimmung eines IVD umfasst:
- was nachgewiesen und/oder gemessen wird;
- seine Funktion (z.B. Screening, Überwachung, Diagnose oder Diagnosehilfe, Prognose, Vorhersage, therapiebegleitendes Diagnostikum);
- Hinweis: Bei der Festlegung der Funktion eines IVD helfen die Definitionen im Guidance Dokument GHTF/SG5/N8:2012 weiter.
- spezifische Informationen, die in folgenden Zusammenhängen bereitgestellt werden sollen:
- physiologischer oder pathologischer Zustand;
- kongenitale körperliche oder geistige Beeinträchtigungen;
- Prädisposition für einen bestimmten gesundheitlichen Zustand oder eine bestimmte Krankheit;
- Feststellung der Unbedenklichkeit und Verträglichkeit bei den potenziellen Empfängern;
- Voraussichtliche Wirkung einer Behandlung oder die voraussichtlichen Reaktionen darauf;
- Festlegung oder Überwachung therapeutischer Maßnahmen;
- ob es automatisch ist oder nicht;
- ob es qualitativ, semiquantitativ oder quantitativ ist;
- die Art der erforderlichen Probe(n);
- ggf. die zu testende Zielpopulation;
- der vorgesehene Anwender und
- bei therapiebegleitenden Diagnostika den internationalen Freinamen (INN) des dazugehörigen Arzneimittels.
Üblicherweise subsumieren Medizinprodukte- und In-Vitro-Diagnostika-Hersteller im Dokument zur Zweckbestimmung ebenfalls den sonstigen bestimmungsgemäßen Gebrauch.
6. Vermeidbare Stolpersteine
a) Inkonsistente Formulierung der Zweckbestimmung
Die Zweckbestimmung eines Produktes ist der zentrale Ausgangspunkt für eine Vielzahl an nachfolgenden Prozessen, was die Auflistung in Kapitel 1 zeigt. Wir stellen bei Reviews von Technischen Dokumentationen immer wieder fest, dass die Zweckbestimmung in den verschiedenen Dokumenten inkonsistent formuliert ist. Das hat zur Folge, dass ggf. in der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung nicht alle erforderlichen Nachweise erbracht werden und die Produktakte nicht von der Benannten Stelle akzeptiert wird.
Wir empfehlen, Ihre Technische Dokumentation nicht dokumenten-basiert, sondern daten-basiert aufzustellen und somit Redundanzen und somit auch Inkonsistenzen zu vermeiden. Einen ersten Einblick liefert unser Fachartikel 7 Tipps für die erfolgreiche digitale Transformation von Medizinprodukteherstellern.
Bitte beachten Sie zusätzlich, dass Angaben zur Zweckbestimmung neben der Technischen Dokumentation auch im dazugehörigen Marketingmaterial und auf der Webseite konsistent sein müssen.
b) Nicht nachgewiesene Claims
Mit der Zweckbestimmung „claimen“ Medizinprodukte- und In-Vitro-Diagnostika-Hersteller den (medizinischen) Nutzen Ihrer Produkte.
Die MDR definiert in Artikel 2 (52) die klinische Leistung als „Fähigkeit eines Produkts, die sich aufgrund seiner technischen oder funktionalen — einschließlich diagnostischen — Merkmale aus allen mittelbaren oder unmittelbaren medizinischen Auswirkungen ergibt, seine vom Hersteller angegebene Zweckbestimmung zu erfüllen, sodass bei bestimmungsgemäßer Verwendung nach Angabe des Herstellers ein klinischer Nutzen für Patienten erreicht wird“. Die IVDR definiert die „Leistung eines Produkts“ als „die Fähigkeit eines Produkts, seine vom Hersteller angegebene Zweckbestimmung zu erfüllen; sie besteht in der Analyseleistung und gegebenenfalls der klinischen Leistung zur Erfüllung dieser Zweckbestimmung“ (IVDR Artikel 2 (39)). Die „klinische Leistung“, als Bestandteil der Leistung eines Produkts, wird definiert als „die Fähigkeit eines Produkts, Ergebnisse zu liefern, die mit einem bestimmten klinischen Zustand oder physiologischen oder pathologischen Vorgang oder Zustand bei einer bestimmten Zielbevölkerung und bestimmten vorgesehenen Anwendern korrelieren“ (IVDR Artikel 2 (41)).
Das bedeutet, dass Hersteller den klinischen Nutzen Ihres Produktes, den sie in der Zweckbestimmung angeben, durch die klinische Bewertung bzw. Leistungsbewertung nachweisen müssen. Dabei sollten Hersteller ebenfalls die definierte Patientenpopulation, die vorgesehenen Anwender und die vorgesehene Nutzungsumgebung berücksichtigen. Somit hat die Zweckbestimmung direkten Einfluss auf den Umfang der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung und den damit verbundenen Aufwand.
Die Hersteller könnten z.B. die Zweckbestimmung zunächst auf eine bestimmte Patientenpopulation einschränken, um den Aufwand in der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung zu reduzieren. Nachdem sich das Produkt im Markt etabliert hat, kann der Hersteller die Zweckbestimmung mit den zugrundeliegenden klinischen Nachweisen erweitern.
7. Fazit
Die Zweckbestimmung stellt die Basis für die Entwicklung Ihres Medizinprodukts bzw. Ihres IVDs dar. Wenn diese fehlt, falsch, unvollständig, inkonsistent oder unverständlich ist, werden Sie wahrscheinlich im Laufe der Entwicklung nicht nur auf regulatorische Probleme stoßen. Üblicherweise lesen Auditoren und Inspektoren dieses Dokument gleich zu Beginn. Nehmen Sie sich also die Zeit, es sorgfältig zu erstellen!
Natürlich unterstützen wir Sie gern bei der Erstellung Ihrer produktspezifischen Zweckbestimmung. Nehmen Sie gleich Kontakt mit uns auf.
Änderungshistorie
- 2021-03: Artikel völlig überarbeitet; v.a. die Einführung und Kapitel 3 (Definitionen) ergänzt und aktualisiert.
- 2024-08-12: Grundlegende Überarbeitung des Artikels; v.a. Einbindung IVD-relevanter Informationen