Der Tote ist auch im Raum. Mit einer Sicherheitsnadel klemmt er an der Bluse der Klägerin. Sie hat ihren verstorbenen Sohn mitgebracht in den Verhandlungssaal 124 des Berliner Landgerichts. Von dort schaut er zu und lächelt – in Folie einlaminiert, als schwarz-weißes Foto. Über seinen Tod werden an diesem Dienstagvormittag im Mai 2024 Anwälte, Gutachter und Richter sprechen. Und über die Frage: Hätte er länger leben können, wenn die Ärzte im Maßregelvollzug seine Symptome ernst genommen hätten? 

Fast sieben Jahre lang ist Ümit Vardar, der Mann auf dem Foto, schon tot. 2017 starb er. Wenige Monate zuvor wurde er aus dem Krankenhaus des Maßregelvollzugs (KMV) in Berlin Reinickendorf entlassen. Seine Mutter, Aysel Vardar, klagt gegen das KMV. Ihre Anwälte sind ihre verbliebenen Söhne, die zwei Brüder von Ümit Vardar. Sie werfen dem psychiatrischen Krankenhaus vor, die Tumore im Kopf ihres Bruders nicht erkannt, ihn mit den falschen Medikamenten behandelt und so seine Lebenszeit verkürzt zu haben. Sie wollen Aufklärung, sagen sie, und Schmerzensgeld.

FragDenStaat hat gemeinsam mit der tageszeitung (taz) zum Maßregelvollzug in Berlin recherchiert. Wir haben mit Angehörigen und Angestellten gesprochen. Wir haben zahlreiche Akten ausgewertet. Wir haben Medikamentenlisten, Hygiene- und Prüfberichte über das Informationsfreiheitsgesetz erlangt. Die Dokumente zeigen ein überlastetes System. Ein System, in dem kranke Menschen eigentlich Hilfe bekommen sollen. Doch angesichts überfüllter Zimmer, abgelaufener Medikamente, Schimmel und akuter Personalnot scheint das unmöglich.

Wann Täter wieder raus dürfen, ist nicht festgelegt

Um zu verstehen, warum Ümit Vardar bis kurz vor seinem Tod im Maßregelvollzug war, muss man ins Jahr 1988 zurückblicken: In einer Januarnacht klopft er an die Wohnungstür seiner Eltern. Er verlangt Geld. Sein Vater lehnt ab. Ümit Vardar droht, seine Eltern umzubringen. Er wartet vor der Wohnungstür. Als sein Vater gegen sechs Uhr die Wohnung verlässt, ist er noch da – mit einer zerschlagenen Bierflasche und einem Pflasterstein in der Hand. 

Er fordert 2.000 D-Mark von seinem Vater. Der beruhigt seinen Sohn und ruft die Polizei. Die nimmt Ümit Vardar fest. Wenig später kommt er frei und geht ins Krankenhaus. Dort schlägt er eine Ärztin mit seiner Faust. Wegen dieser Taten landet er später vor Gericht. Seine Delikte: Bedrohung, räuberische Erpressung, Körperverletzung.

Ein Gerichtsgutachter diagnostiziert bei Vardar eine Schizophrenie. Diese Krankheit verändert, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, denken und fühlen. Einige hören Stimmen, andere fühlen sich verfolgt oder fremdgesteuert. Für das Gericht steht fest: „Wegen dieser Erkrankung war die Einsichts- und Handlungsfähigkeit des Beschuldigten aufgehoben.“ So steht es in dem Urteil von damals. Darum kommt Ümit Vardar nicht ins Gefängnis, sondern in den Maßregelvollzug.

Der Maßregelvollzug ist eine Besonderheit des deutschen Strafrechts: Wer eine Tat wegen einer psychischen Erkrankung oder unter Drogeneinfluss begangen hat, soll nicht bestraft werden, sondern Hilfe bekommen und sich bessern. Darum kommen diese Täter:innen in ein psychiatrisches Krankenhaus, das gesichert ist wie ein Gefängnis. Nur: Anders als im Gefängnis gibt es kein Urteil, das festlegt, wann Täter:innen wieder raus dürfen.

Bei Ümit Vardar hat es fast 27 Jahre gedauert – deutlich länger als eine Haftstrafe für diese Taten gewesen wäre. Im Sommer 2017 verbringt er die letzten Monate im KMV, da wird sein rechter Arm taub, auch sein rechtes Bein, sein Gesicht. Glaubt man dem Gerichtsgutachter in Saal 124, waren es die ersten Zeichen dafür, dass in seiner linken Gehirnhälfte zwei bösartige Tumore wuchsen. Atilla Vardar, Bruder von Ümit und Anwalt, glaubt hingegen, dass die Tumore schon viel früher hätten erkannt werden müssen. 

Der Berliner Gesundheitssenat ist als Aufsichtsbehörde für den Maßregelvollzug verantwortlich. Als FragDenStaat und die taz um eine Stellungnahme zum Fall von Ümit Vardar bitten, schreibt die Behörde: Aufgrund des Datenschutzes könne und werde er nicht antworten.

Ümit Vardar verbrachte mehr als die Hälfte seines Lebens im Berliner Maßregelvollzug. 2017 starb er kurz nach seiner Entlassung | Foto: Tina Eichner – Bearbeitung: FragDenStaat

Keine Therapie, keine Besserung, keine Entlassung

Die Situation im Berliner KMV ist seit Jahren sehr schlecht: immer mehr Patient:innen, immer weniger Personal. Der Gesundheitssenat räumt auf Anfrage ein: Zurzeit fehlen 145 Mitarbeitende, etwa ein Viertel aller Stellen. Gleichzeitig sind 62 mehr Patient:innen untergebracht, als Betten genehmigt wurden.  

Dass Einzel-, Gruppen- oder Ergotherapien unter diesen Umständen kaum stattfinden, weiß auch der Berliner Senat. Er schreibt auf eine parlamentarische Anfrage Grüner Abgeordneter: „Aufgrund der massiven Überbelegung und des eklatanten Personalmangels kann nicht bei jedem Patienten/ jeder Patientin die Häufigkeit der Therapiesitzungen angeboten werden, die […] notwendig wären.” Keine Therapie bedeutet in der Regel auch keine Besserung. Keine Besserung heißt, Patient:innen bleiben länger und das Krankenhaus wird voller und voller.

Aysel Vardar spricht mit ihren Söhnen und Anwälten darüber, wie es mit der Klage weitergeht | Foto: Tina Eichner – Bearbeitung: FragDenStaat

Seit einigen Jahren besucht eine offizielle Kommission alle Berliner Psychiatrien. Sie soll überprüfen, ob sich die Krankenhäuser an Menschenrechte halten. In ihrem Bericht, den wir per IFG befreit haben, nutzt die Besuchskommission schon 2020 für das KMV Worte wie „mangelhaft”, „defizitär” und spricht von „erheblichen Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten”.

Persönlichkeitsrechte eingeschränkt

Persönlichkeitsrechte eingeschränkt

Im Bericht von 2021 bemängelt die Kommission: „Als sehr problematisch wurde die Lage von zwei Patient*innen eingeschätzt, die seit mehreren Monaten in den Isolationszimmern untergebracht sind.” Ein Isolationszimmer hat jede Station im KMV. Es ist ein Raum, in dem es nichts gibt – außer einem Bettgestell, einer Matratze und einem Bad. Normalerweise kommen Patient:innen dorthin, wenn sie sich selbst oder andere gefährden. Allerdings für Stunden, maximal Tage. Die Vereinten Nationen (UN) gehen davon aus, dass mehr als 15 nacheinanderfolgende Tage der Einzelhaft Folter sind. Der Berliner Gesundheitssenat schreibt, dass alle zwölf Stunden ein:e Fachärzt:in die Isolationen überprüfe. Eine Höchstdauer, die als angemessen gilt, existiere laut Gesundheitssenat nicht.

Monatelange Isolation

Monatelange Isolation

„Die Strukturen im KMV fördern Gewalt“, sagt Patrizia Di Tolla. Sie ist Teil der Besuchskommission, die kontrollieren soll, ob sich Berliner Psychiatrien an die Menschenrechte halten. „Die große Mehrheit der Patienten haben im KMV keine Beschäftigung, kein Internet, kaum Ausgänge und kaum Kontakte nach außen. Therapiestunden fallen ständig aus. Es gibt nur Langeweile und Frust“, sagt sie. Es finde keine Behandlung statt. So sei auch keine Rehabilitation möglich. Seit etwa sechs Jahren hat Di Tolla Zugang zum KMV. Eigentlich brauche das Krankenhaus eine Generalüberholung, findet sie. 

Menschenunwürdige Zustände

Anfang des Jahres wandte der Chefarzt des KMV, Sven Reiners, sich mit einer Stellungnahme an die Berliner Gesundheitssenatorin. Seine leitenden Ärzt:innen und Psycholog:innen des KMV hatten eine Gefahrenanzeige geschrieben. Reiners unterstützte sie. Er spricht von einer erheblichen Gefährdung für Leib und Leben der Beschäftigten und Patient:innen. 

Erhebliche Gefährdung von Leben

Erhebliche Gefährdung von Leben

Wenige Monate später, im Frühling, kündigte Klinik-Leiter Reiners seinen Job. In seiner Kündigung schreibt er: „Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere aber die letzten zwölf Monate, haben zu Zuständen geführt, die ich in keinerlei Hinsicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren kann.“ Die Unterbringung einzelner Patient:innen sei menschenunwürdig, sagt er dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Wir haben sein Schreiben an den Gesundheitssenat erfragt und klagen nun, weil die Behörde nicht reagiert.

Welche Zustände Reiners konkret meinen könnte, zeigen Unterlagen, die wir befreit haben. Das Gesundheitsamt des Bezirks Reinickendorf kontrolliert regelmäßig die hygienischen Zustände in dem Krankenhaus. Der Bericht über diese amtsärztlichen Begehung von 2022 liest sich wie eine lange Liste voller Ekel und Gefahren:

  • Es wurden abgelaufenes Insulin und Betäubungsmittel vorgefunden und diese zur Entsorgung dem Mitarbeiter übergeben. 

  • Das Blutdruckmessgerät wurde zuletzt 2015 gewartet und wurde direkt entsorgt. 

  • Es wurden mehrere abgelaufene Medikamente und Medizinprodukte gefunden und direkt vor Ort entsorgt. Auch der Notfallrucksack wies einige Mängel auf: die O2-Flasche wurde nicht gewartet, Notfallmedikamente sind seit 01/22 abgelaufen.

  • Der auf dem Boden gelagerte Müll ist zu entsorgen.

  • Der defekte Toilettensitz ist auszutauschen. 

  • Die mit Kot verschmutzte Wand ist umgehend zu reinigen und zu streichen. 

  • Aufgrund starker Geruchsbelästigung ist der gesamte lsolationsraum einer Grundreinigung zu unterziehen. 

  • Die verschimmelten Silikonfugen sind zu erneuern. 

  • Das herausgebrochene Fenster ist zu reparieren. 

  • Die gerissene Betonkante am Fenster zum Isolierraum ist instand zu setzen. 

  • Die auf dem Boden gelagerten, stark verschmutzten, schimmligen Handtücher sind zu entsorgen.

Ende 2023 beim aktuellsten Bericht gibt es weniger Mängel:

  • Der Holzfußboden rechts vor dem Doppelschrank sackt soweit ab, dass der Schrank sich beim davor treten nach vorne kippt. Der Fußboden ist zu kontrollieren und instand zu setzen. 

  • In vielen Bereichen des Hauses wurde eine ungenügende Wartung von den Blutdruckmessgeräten vorgefunden.

  • Der Noffallrucksack ist nicht auf dem Kühlschrank zu lagern, da die austretende Wärme die Innenliegenden Medikamente in der Lagerung beeinträchtigt.

  • Die abgelaufenen Medikamente aus dem Noffallrucksack sind auszutauschen.

Immerhin: Im Trinkwasser sind keine gefährlichen Bakterien, wie ein Labor feststellt. Im Januar dieses Jahres schreibt das KMV an das Gesundheitsamt, die Mängel seien beseitigt worden oder die Beseitigung sei veranlasst. 

Hygienische Mängel

Hygienische Mängel

Anfang dieses Jahres teilen sich zwei Patient:innen ein neun Quadratmeter großes Zimmer. Sie haben weniger Platz als in einer Gefängniszelle. In 51 Zimmern sind mindestens drei Patient:innen untergebracht. Privatsphäre oder Ruhe sind selten. Wegen des Platzmangels hat das KMV dieses Jahr mehrere Patient:innen gar nicht aufgenommen. Sie warten im Gefängnis. Wann sie ins KMV können, sei laut Gesundheitssenat „zeitlich nicht absehbar”.

Beseitigung der Mängel

Beseitigung der Mängel

Warum Ümit Vardar so lange im KMV war, kann sich Ex-Chefarzt Reiners nicht erklären. „27 Jahre in der forensischen Psychiatrie wegen räuberischer Erpressung: Das ist ein Skandal”, sagt er in einem Gespräch, das wir mit ihm zur Situation in seiner früheren Arbeitsstätte geführt haben. Reiners hatte den Fall um Vardar geerbt. Als er 2021 die Leitung des KMV übernahm, war Vardar schon tot. Doch noch heute gebe es ähnliche Fälle im KMV, sagt er. Reiners fühlt sich vom Gesundheitssenat im Stich gelassen. Er findet, der Maßregelvollzug brauche einen Neubau: „Eine moderne Klinik mit höchstens 20 Patienten pro Station.” Damit hätte man schon vor Jahren anfangen können, sagt er.

Aysel Vardar verklagt das Land Berlin | Foto: Tina Eichner – Bearbeitung: FragDenStaat

Ähnliche Worte wählt Berlins Ex-Psychiatrie-Beauftragte Luciana Degano Kieser: „Menschenwürde und Patientenrechte werden im Berliner Maßregelvollzug nur unzureichend eingehalten.” Qualitative Mindeststandards in der Behandlung würden nicht gewährleistet – unter anderem wegen der baulichen Bedingungen. Degano Kieser war ein halbes Jahr im Amt. Dass sich die Zustände in den nächsten Jahren ändern, sei nicht absehbar gewesen. Es fehlten eine Strategie und eine zumindest mittelfristige Planung. „Die Situation war für mich ethisch nicht mehr tragbar und fachlich nicht mehr zu verantworten”, sagt Degano Kieser heute. Seit sie im Juni 2023 ihr Amt niederlegte, blieb es ohne Nachfolge. Auch Reiners Stelle blieb bisher unbesetzt.

„Hochgradig bemüht, Personal zu finden”

Immer wieder kommt es im Maßregelvollzug zu Gewalt gegen Patient:innen und Angestellte. Vergangenes Jahr waren es 51 Übergriffe durch Patient:innen, 3 Ausbrüche und 81 Bedrohungen. Im Februar demonstrierten Angehörige gegen die Zustände im KMV. Im März protestierten Ärzt:innen. Die Berliner Ärztekammer warnte vor einem Kollaps des Krankenhauses. 

Fragt man den Gesundheitssenat nach den Folgen der zahlreichen Proteste und Beschwerden, schreibt er: „Zur nachhaltigen Verbesserung der Situation im Krankenhaus des Maßregelvollzugs wird der Standort saniert und erweitert.” Zwölf neue Plätze habe man bereits geschaffen. Auch gebe es mehr Geld aus dem Haushalt: Dieses Jahr steigt die Summe von 67,7 Millionen Euro auf insgesamt 83,3 Millionen Euro und nächstes Jahr auf 89,2 Millionen Euro. „Das KMV ist hochgradig bemüht, Personal zu finden. Hierzu laufen Dauer-Stellenausschreibungen“, schreibt der Senat und verweist auf den Fachkräftemangel.

„Jemand, der so lange bleibt wie ich, ist die Ausnahme“, sagt Jürgen Beckmann. Er hat mehrere Jahrzehnte als Arzt im KMV gearbeitet. Inzwischen ist er in Rente. „Normalerweise kommen Leute und gehen nach einem Jahr wieder, weil sie es nicht aushalten.“ Für den miserablen Zustand des KMV macht Beckmann mehrere Ursachen aus: die Sparmaßnahmen des Landes Berlin, das gesellschaftliche Klima und dass immer mehr Menschen, die straffällig geworden sind und Drogen nehmen, den Maßregelvollzug überfüllen – und dann dort weiter konsumieren. Menschen mit Suchtproblemen müsse man nicht in den Maßregelvollzug stecken, findet Beckmann. Zumal man dort sowieso leicht an Drogen komme. 

Ein ehemaliger Psychologe des KMV erzählt, dass es ihn schockiert habe, wie in dem Krankenhaus mit Patient:innen umgegangen werde. Er möchte gern anonym bleiben. Zwar gebe es wertschätzende Mitarbeitende, berichtet er, aber auch viele, die auf Patient:innen herabblicken. „Sie haben resigniert und unterstützen das Unrechtssystem im KMV.“ Manchmal bedeute das, ein:e Patient:in dürfe sich keine Pinsel und Blätter zum Malen holen, manchmal bedeute es, Suizidgedanken werden nicht ernst genommen. Das KMV dementiert das. Der Arzt Jürgen Beckmann kann sich nicht erinnern, dass Suizidgedanken nicht ernst genommen wurden. Dass sich das Personal in Engagierte und Frustrierte teilt, bestätigt er.

Die unbemerkten Signale des Tumors

Dass unter solchen Umständen ein Hirntumor unentdeckt bleibt, ist nicht abwegig. Für den Gerichtsgutachter im Saal 124 ist klar: Ab Juni 2017 hätte das KMV die Hirntumore von Ümit Vardar erkennen müssen. Er klagte über Lähmungen der rechten Körperhälfte – ein klares Signal für einen Tumor in der linken Hirnhälfte. „Hätte man ihn damals behandelt, hätte er noch ein oder zwei Jahre länger gelebt“, sagt der Gutachter vor Gericht. Dass die Ärzte im KMV Vardar damals nicht weiter behandelten oder verlegen ließen, ist für den Gutachter ein Behandlungsfehler.

Neben Akten stapeln sich bei Familie Vardar Gedichte, die Ümit Vardar im KMV schrieb | Foto: Tina Eichner – Bearbeitung: FragDenStaat

Für Familie Vardar ist die entscheidende Frage aber: Gab es schon früher Signale? Wurden diese ignoriert? Ja, meint sein Bruder und Anwalt Atilla Vardar. 2015 klagte Ümit Vardar über seinen tauben, rechten Daumen, Schmerzen in beiden Oberarmen, 2016 hatte er Schmerzen über dem rechten Auge, sah verschwommen. So dokumentieren es auch die Ärzt:innen im KMV. Über ein halbes Jahr wird Vardar immer wieder tageweise in den Isolationsraum gebracht. Dort muss er hin, weil er sich aggressiv verhält. Hängen seine Aggressionen von damals mit den Tumoren zusammen? Sein Bruder glaubt ja, der Gutachter hält das für unwahrscheinlich.

Atilla Vardar geht davon aus, dass das KMV seinen Bruder jahrelang falsch behandelt hat. Ein Beispiel: Ümit Vardar hat das Medikament Tavor bekommen. Es gehört zur Gruppe der Benzodiazepine. Diese Mittel nehmen die Angst, beruhigen, machen müde – und schnell abhängig. Wenn schizophren erkrankte Menschen die Mittel über längere Zeit nehmen, erhöhen sie ihr Sterberisiko. So belegen es Studien. In den ärztlichen Leitlinien für die Behandlung von Schizophrenie steht: „Eine langfristige Anwendung von Benzodiazepinen soll nicht erfolgen.“ Laut dem Psychiater Jürgen Beckmann sollte Tavor maximal 7 bis 10 Tage nacheinander verabreicht werden. Vardar bekam Tavor über mehrere Jahre täglich. Erst ein Jahr vor seiner Entlassung reduzierte das KMV die Dosis und versuchte, das Medikament langsam zu reduzieren. 

Daten zeigen, wie viele Antipsychotika bestellt werden

Im Jahr 2016, als Vardar noch im KMV war, bestellte das Krankenhaus für fast 1.700 Euro Tavor. Das zeigen Daten, die FragDenStaat erhalten hat. 2023 gibt es noch mehr Geld dafür aus: Inzwischen wird für etwa 2.200 Euro Tavor gekauft. Von dieser Menge hätten alle Patient:innen, die in diesem Jahr im KMV waren, zwischen 13 und 65 Tagen damit behandelt werden können – je nach Dosierung. Dass Vardar öfter Tavor bekommen hat, bewertet das Gericht jedoch als okay: Gesundheitliche Nachteile könne man nicht erkennen, auch weil Belege dafür fehlten. 

So viel Tavor wurde 2023 bestellt

So viel Tavor wurde 2023 bestellt

Neben Tavor bekommt Vardar andere Antipsychotika. Im Mai 2016 zum Beispiel: Haloperidol als Tropfen, Quetiapin als Tabletten, Zuclopenthixol als Spritze alle 40 Tage. Als er die ersten beiden nicht mehr nimmt, ersetzt ein Oberarzt sie durch zwei andere Antipsychotika. Fragt man den Psychiater Jürgen Beckmann nach dem Umgang mit Medikamenten sagt er sofort: „Das ist nicht okay, was das KMV macht!“ Eigentlich solle mit so wenigen Antipsychotika wie möglich behandelt werden. Aber: „Es gibt Patienten, die bekommen eine Kombination aus drei oder vier verschiedenen Antipsychotika. Das ist für mich nicht nachvollziehbar.“ Bisher zeigen Studien nur schwache Hinweise darauf, dass die Kombination von mehreren Antipsychotika wirksamer sei als ein einzelnes.

Im August 2017 wird Ümit Vardar aus dem Maßregelvollzug entlassen. Nach 27 Jahren ist er wieder in Freiheit. Er zieht ins Krisenhaus Schöneberg, eine Unterkunft für Wohnungslose. Dort bricht er mehrmals zusammen. Er kommt ins Krankenhaus. In der Klinik schiebt man Vardar in die Computertomografie und macht Bilder von seinem Gehirn. Jetzt sehen Ärzte zum ersten Mal zwei Hirntumore im fortgeschrittenen Stadium. Im November 2017 stirbt Ümit Vardar im Krankenhaus. Er wurde 52 Jahre alt.

Nach seinem Tod entscheiden sich seine Mutter und Brüder, den Gesundheitssenat zu verklagen. Im Mai 2024 tritt die Mutter von Ümit Vardar mit geröteten Augen aus dem Verhandlungsaal 124. Sie wünscht sich Gerechtigkeit, sagt sie. Ob sie Hoffnung hat? Sie zuckt mit den Schultern, spreizt die Finger ihrer Hand und dreht sie abwägend. 

Einige Wochen später verkündet das Gericht sein Urteil: Die Klage wird zu großen Teilen abgewiesen. Aber das Land Berlin wird verurteilt, an Familie Vardar 35.000 Euro zu zahlen. Beantragt hatten sie 280.000 Euro Schmerzensgeld plus Beerdigungskosten. 

In seiner Urteilsbegründung erklärt das Gericht: Ob und wie lange Ümit Vardar im Falle einer früheren Behandlung noch gelebt hätte, ist auf rechtlicher Ebene bedeutungslos. Atilla Vardar hält das Urteil für fehlerhaft. Der Name seines Bruders, Ümit, bedeutet auf Deutsch: Hoffnung. „Er war Mister Hope“, sagt Atilla Vardar. Vor kurzem hat er Berufung gegen das Urteil eingelegt.

Seine Zeichnungen signierte Ümit Vardar mit “Hope” | Foto: Tina Eichner – Bearbeitung: FragDenStaat

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