Medizinproduktehersteller müssen mögliche Schäden und deren Schweregrade bestimmen, um die Risiken durch ihre Produkte bewerten zu können.

Was sich einfach anhört, ist in der Praxis sehr herausfordernd. Dieser Artikel gibt Hilfestellung, um die Schäden und deren Schweregrade ISO 14971-konform zu bestimmen und dokumentieren.

1. Schäden

a) Definition

Die ISO 14971 definiert den Begriff Schaden.

„Verletzung oder Schädigung der Gesundheit von Menschen oder Schädigung von Gütern oder der Umwelt“.

DIN ISO 14971:2022, Kapitel 3.3 mit Verweis auf ISO/IEC Guide 63:2019, 3.1

b) Beispiele

Die Schäden gemäß ISO 14971 sind üblicherweise

  • Beeinträchtigungen der Körperstruktur (z.B. Schnitt, Verbrennung, Knochenbruch) oder
  • Körperfunktion (z.B. Bewegungsfähigkeit, Sehfähigkeit, Fähigkeit, Blut zu reinigen).
  • Auch die Verringerung der Lebenserwartung und
  • psychische Beeinträchtigungen zählen zu den Schäden. Die letzteren erst ab der dritten Ausgabe der ISO 14971. Davor waren Schäden auf physische Verletzungen und Schädigungen beschränkt.

c) Missverständnisse und Herausforderungen

Fehler 1: Annahme, dass es einen (einzigen) Schaden gäbe

Viele Hersteller vermuten, dass es einen Schaden gäbe, den sie in die entsprechende Spalte in der „Risikotabelle“ eintragen müssten. Das ist meist nicht zutreffend. Denn es gibt nicht nur einen Schaden, sondern eine ganze Schadenskette, bei dem jedes einzelne Glied einen Schaden im Sinne der Definition bedeutet (s. Abb. 1).

Abb. 1: Es gibt nicht nur einen Schaden, sondern eine Kette von Schadensereignissen

Jedes Element dieser Ursachenkette genügt der Definition der ISO 14971. Denn jedes Element stellt eine physische Verletzung oder Schädigung der Gesundheit dar.

Jedes Element dieser Schadenskette wird mit einer anderen Wahrscheinlichkeit auftreten und damit ein anderes Risiko im Sinn der ISO 14971 darstellen.

Fehler 2: Annahme der „Linearität“ der Schadenskette

Diese Ursachenketten sind meist komplex und nicht linear, wie das die Abbildung 1 vermuten lässt. Diese macht folgende Abbildung 2 klar:

Ein initialer Schaden kann mehrere Ketten an Schadensereignissen auslösen
Abb. 2: Ein initialer Schaden kann mehrere Ketten an Schadensereignissen auslösen

Wenn Sie eine Risikoanalyse durchführen, speziell diesen letzten Teil der Ursachenkette untersuchen wollen, benötigen Sie

  • eine Ärztin oder einen Arzt und
  • einen Risikomanager, der die Ergebnisse dieser Ärztin oder dieses Arztes in der Risikomanagement-Akte konsistent und konform der Forderungen der ISO 14971 dokumentiert.

Fehler 3: Angabe von Schäden, die keine Schäden sind

Regelmäßig finden sich Einträge wie die folgenden in der mit „Schaden“ überschriebenen Spalte in der Risikotabelle:

  • Defektes Produkt
  • Adverse Event
  • Schaden für Patient
  • Teure Nachbesserung

Erkennen Sie die Probleme? Eine Auflösung finden Sie am Ende des Artikels in der Tabelle 3.

2. Schweregrade von Schäden

a) Definition

Die ISO 14971, die Norm zum Risikomanagement bei Medizinprodukten, definiert den Begriff Schweregrad (von Schäden)

Maß der möglichen Auswirkungen einer Gefährdung“.

DIN ISO 14971:2022, Kapitel 3.27 mit Verweis auf ISO/IEC Guide 63:2019, 3.3

b) Regulatorischer Hintergrund

Hersteller müssen die Risiken identifizieren und bewerten. Für die Bewertung nutzen sie üblicherweise eine Risikoakzeptanzmatrix (s. Abb. 3).

Beispiel für eine Risikoakzeptanzmatrix
Abb. 3: Beispiel für eine Risikoakzeptanzmatrix

Diese Risikoakzeptanzmatrix setzt voraus, dass der Hersteller Klassen für die Wahrscheinlichkeiten und Schweregrade definiert. Das bedeutet, er muss Klassifizierungskriterien für die Schweregradklassen festlegen.

c) Herausforderung beim Definieren von Schweregradklassen

Die Bewertung von Schweregraden erweist sich als schwierig:

  • Was ist schlimmer: der Patient, dessen Knie durch das Versagen eines Medizinprodukts dauerhaft steif ist, oder der Patient, der sich kurzfristig in einer lebensbedrohlichen Situation befand, die nur dank des Intensivmediziners ohne Folgeschäden gelöst wurde?
  • Sind die zwei Monate, die man einem Todkranken nimmt, der nur noch ein halbes Jahr zu leben hat, schlimmer oder weniger schlimm als die zwei Monate, die einem Menschen fehlen, der noch 10 Jahre zu leben hat?

d) Bestehende Lösungsansätze

Definition der MPAIMV

Die MPAIMV definiert in §2 den Begriff des schwerwiegenden Vorkommnisses als ein Vorkommnis mit den folgenden potenziellen Folgen:

  • 1. den Tod eines Patienten, Anwenders oder einer anderen Person,
  • 2. die vorübergehende oder dauerhafte schwerwiegende Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten, Anwenders oder einer anderen Person oder
  • 3. eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Gesundheit.

Doch die dazu verwendeten Begriffe wie „schwerwiegend“ definiert die Verordnung nicht.

Definition der MEDDEV

Die MEDDEV-2.12. enthält eine Definition des Begriffs „schwerer Schaden“:

Die MEDDEV 2.12 definiert Schweregrade von Schäden: "Serious Deterioration"
Abb. 4: Ausschnitt aus der MEDDEV 2.12. (zum Vergrößern klicken)

Doch auch diese Definition nutzt nicht definierte Begriffe und erlaubt nur die Abgrenzung von schweren und nicht schweren Schäden.

NACA-Score

Eine Klassifizierung zur Einteilung (kurzfristiger) Schäden finden Sie bei Wikipedia (NACA Score). Diese Einteilung stammt ursprünglich vom  National Advisory Committee for Aeronautics – ursprünglich entwickelt für die Klassifizierung von Unfällen in der Luftfahrt.

Das Problem dieses Scores besteht darin, dass nur die „Amplitude“ des Schadens, nicht aber dessen zeitlicher Verlauf Berücksichtigung finden.

Tabellen der Versorgungsmedizin-Verordnung

Zur Einteilung langfristiger Schäden, d.h. Behinderungen sind die Tabellen der Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV hilfreich. Beispielsweise enthält diese Tabelle folgende Einträge:

Erkrankung Behinderungsgrad
Hirnschäden mit kognitiven Leistungsstörungen (z. B. Aphasie, Apraxie, Agnosie)
– leicht (z. B. Restaphasie) 30-40
– mittelgradig (z. B. Aphasie mit deutlicher bis ausgeprägter Kommunikationsstörung)
– schwer (z. B. globale Aphasie)
30-40 %
50-80 %
90-100 %
Linsenverlust eines Auges: Sehschärfe 0,1 bis weniger als 0,4  20 %
Atemnot bereits bei leichtester Belastung oder in Ruhe; statische und dynamische Messwerte der Lungenfunktionsprüfung um mehr als 2/3 niedriger als die Sollwerte 80-100 %
Verlust eines Daumens  25 %
Tabelle 1: Erkrankungen und Verletzungen mit zugehörigem Behinderungsgrad

Zwischenfazit

Viele Scores betrachten nur den Schweregrad von akuten Schäden. Ein nicht-lebensbedrohlicher und gleichzeitig nicht reversibler Schaden wie eine dauerhafte Behinderung lässt sich in dieses Schema nicht gut einordnen.

Es hilft auch nicht bei der ethischen Diskussion darüber, ob man bei Schäden

  • den maximalen kurzfristigen Effekt („die Höhe der Schadenskurve“) oder
  • die zeitliche Dauer des Effekts oder
  • das „Integral“ dieser Kurve nutzen soll.
Um die Schweregrade von Schäden zu bestimmen, sollte deren Dauer und(!) dessen Höhe (Grad der Beeinträchtigung) berücksichtigt werden.
Abb. 5: Um die Schweregrade von Schäden zu bestimmen, sollte deren Dauer und(!) deren Höhe (Grad der Beeinträchtigung) berücksichtigt werden. (zum Vergrößern klicken)

e) Neuer Ansatz zum Quantifizieren der Schweregrade von Schäden

Schritt 1: Relevante Klassifizierungsmerkmale bestimmen

Um Schweregrade von Schäden zu klassifizieren, benötigen Hersteller Klassifizierungsmerkmale

  • Tod (j/n)
  • Hospitalisierungsdauer > n Tage (j/n)
  • Grad der Behinderung > x % (j/n)
  • Intensivmedizinische Behandlung (eines Nicht-Intensivpatienten) notwendig (j/n)
  • ärztliche Intervention notwendig (j/n)
  • reversibel (j/n)
  • Verkürzung der Lebenserwartung > n Monate (j/n)
  • Verkürzung der Lebenserwartung > x % verglichen mit der Lebenserwartung bei „richtiger Behandlung“ (j/n)
  • Schmerz-Level > X (j/n)
  • Lebensqualität, Psychische Belastung gemäß „Quality of Life“-Kriterien

Schritt 2: Diese Kriterien zum Definieren von Schweregradklassen nutzen

Im zweiten Schritt können die Hersteller die ausgewählten Klassifizierungsmerkmale nutzen, um die Schweregradklassen zu definieren.

Beispiele für die Definition von Schweregradklassen

Schweregradklasse Klassifizierungsmerkmale
Katastrophal Tod von einem oder mehreren Patienten
Kritisch Intensivmedizinische Behandlung notwendig oder/und nicht reversibler Schaden mit mindestens n % Behinderung.
 
Tabelle 2: Den Schweregrad-Klassen werden binär entscheidbare Klassifikationskriterien zugewiesen

Schritt 3: Beispiele ergänzen

Ergänzen Sie als Hersteller die Definition der Schwergradklassen durch konkrete Beispiele für Ihr Medizinprodukt. Dann wird es bei der Risikoanalyse (konform mit ISO 14971) einfacher fallen, abzuschätzen, wie hoch der Schweregrad von Schäden sein kann, die durch Ihr Medizinprodukt verursacht werden.

Schritt 4: Eigene Definitionen prüfen

  • Nutzen Sie die o.g. Tipps zum Definieren von Schweregraden. Es reicht nicht aus, nur Attribute wie „leicht“, „ernst“, „schwer“ und „katastrophal“ zu nennen, aber nicht zu schriftlich zu definieren, was ein „schwerer“ Schaden ist.
  • Verwechseln Sie Schweregrade von Schäden nicht mit Wahrscheinlichkeiten. Daher sind Schweregradklassen wie „Potenziell tödlich“ oder „birgt Gefahr einer lebensbedrohlichen Verletzung“ falsch. Die Wahrscheinlichkeitsachse ist davon unabhängig, zumal bereits Risiken als die Kombination aus Wahrscheinlichkeit und Schweregrad definiert sind.
  • Vermeiden Sie ethisch diskussionsbedürftige Reihenfolgen beim Schweregrad von Schäden: Zwei Verletzte sind also schlimmer als ein Toter?
  • Achten Sie darauf, dass Sie die Schweregrade von Schäden vollständig definieren. Also z.B. auch mehrere „schwere irreversible Verletzungen“ oder „für mehrere Personen“.

Das Risikomanagement-Team des Johner Instituts hilft Ihnen beim Erstellen und Prüfen von Risikomanagementakten, damit sind Audits und Zulassungen problemlos und sicher bestehen. Zu diesen Akten zählen auch die Risikopolitik und der Risikomanagementplan, welche die Risikoakzeptanzkriterien und damit die Definition der Schweregradklassen enthalten sollten.

Das Seminar „Risikomanagement & ISO 14971“ verschafft Ihnen einen schnellen Einstieg. Dort lernen Sie auch Risikoakzeptanzkriterien festzulegen.

3. Fazit und Zusammenfassung

a) Die Festlegung der Schweregradklassen von Schäden ist die Basis

Eine der wichtigsten gesetzlichen Forderung ist die nach dem Risikomanagement. Ein gesetzeskonformes Risikomanagement bedarf präziser Risikoakzeptanzkriterien. Und die setzen eine präzise Definition der Schweregrade voraus.

b) Klassifizierungskriterien ermöglichen die Reproduzierbarkeit

Hersteller müssen Schäden reproduzierbar – d.h. über viele Personen und lange Zeiträume hinweg – den Schweregradklassen zuweisen können. Andernfalls steht das ganze Risikomanagement und damit der Erfolg von Audits und Zulassungen auf tönernen Füßen.

Die Definition von Schweregradklassen anhand klarer, am besten binärer Klassifizierungsmerkmale ermöglicht diese Reproduzierbarkeit.

c) Die Kompetenz des Risikomanagementteams ist entscheidend

Ohne ein kompetentes Risikomanagementteam wird die Definition von Schaden und Schweregraden sowie die Einteilung von Schäden in die Schweregradklassen nicht gelingen. Denn die Herausforderungen sind groß:

  • Welchen Schaden in der Schadenskette soll in die Risikotabelle eingetragen werden? Diese Entscheidung wirkt sich auch auf die zugehörigen Wahrscheinlichkeiten der ausgewählten Schäden aus?
  • Wie ist der Schweregrade dieses Schadens bezüglich der Attribute zu bewerten und damit zu klassifizieren?
  • Wie geht man mit den oben angesprochenen ethischen Bewertungen um?

Das Risikomanagement-Team sollte neben den Risikomanagern auch Ärztinnen und Ärzte sowie Kontextexperten wie medizinisches Fachpersonal umfassen.


Das Johner Institut bildet Risikomanagement-Teams aus und hilft, ISO 14971-konforme Risikomanagementakten zu erstellen.

Änderungshistorie

  • 2024-09-17: Kapitel 1.c) neu strukturiert und erweitert. Tabelle 3 eingefügt. Redaktionelle Änderungen in Kapitel 3.
  • 2023-04-27: Artikel neu geschrieben
  • 2017-11: Erste Version erstellt

Auflösung

Eintrag in Spalte „Schaden“ Kommentar
Defektes Produkt Ein defektes Produkt ist ein Güterschaden und damit ein Schaden im Sinne der iSO 14971. Relevanter in der Risikomanagementakte sind die physischen Schäden, die Folge eines Defekten Produkts sein können.
Serious Adverse Event Dieser Schaden ist zu unspezifisch. Das „Serious“ entspricht einem Schweregrad. Dieser ist in einer anderen Spalte zu dokumentieren.
Schaden für Patient Dieser Schaden ist zu unspezifisch beschrieben. Es genügt nicht anzugeben, wen der Schaden betrifft.
Teure Nachbesserung siehe Kommentar zu „Defektes Produkt“. Eine Gleichsetzung von ökonomischen und gesundheitlichen Schäden ist ethisch schwierig. Daher ist es besser, diese „Schadenstypen“ in unterschiedlichen Risikoakzeptanzmatrizen zu bewerten.
Tabelle 3: Bewertung von „Schäden“ auf Übereinstimmung mit der Definition der ISO 14971



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