Manchmal wacht Samuel Kolani auf und liegt auf dem Boden seiner Zelle. Einmal zog er seinen Kopf aus einer Blutlache und spürte mit der Zunge, dass ein Zahn fehlte. „Irgendwann machen die Wärter meine Tür auf und ich bin tot“, sagt er.
Kolani ist 29 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Alle paar Monate wird er bewusstlos und krampft am ganzen Körper. Manchmal fängt ihn ein Mitgefangener auf, aber manchmal stößt er mit dem Kopf gegen ein Regal und wacht mit Beulen und aufgeplatzter Lippe auf. Der Grund für die Krampfanfälle ist eine psychische Erkrankung.
Wahrscheinlich sind es dissoziative Krampfanfälle, auch psychogene nicht-epileptische Anfällen (PNES) genannt, so steht es in ärztlichen Berichten. Betroffene verlieren das Bewusstsein und die Kontrolle über ihren Körper. Es ist eine seltene psychische Krankheit, die als Folge eines Traumas auftreten kann – und eine, so scheint es, bei der das Hamburger Gefängnis Kolani nicht helfen kann. Vor sieben Jahren, als er inhaftiert wurde, traten die Krampfanfälle erstmals auf.
In deutschen Gefängnissen leben immer mehr Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Sie leiden an Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Psychosen oder Angststörungen. Expert*innen nehmen an, dass inzwischen mindestens die Hälfte aller Gefangenen in Deutschland eine psychische Erkrankung hat, die behandelt werden müsste. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) geht davon aus, dass die Versorgung im Strafvollzug unzureichend ist. In einer Untersuchung stellte sie fest, dass 86 Prozent der befragten Gefängnisse ihre Versorgungsmöglichkeiten als problematisch beurteilten.
Wir haben gemeinsam mit dem Deutschlandfunk Kultur zur Gesundheitsversorgung in deutschen Gefängnissen recherchiert. Über viele Monate haben wir mit Gefangenen, Angestellten im Vollzug und Ärzt*innen vor Ort und am Telefon gesprochen. Mit Informationsfreiheits- und Presseanfragen haben wir Statistiken und Berichte befreit. Unsere Recherche zeigt, wie überfordert einige Gefängnisse mit der hohen Zahl psychisch Kranker sind. Sie zeigt auch, wie groß die Unterschiede sind – je nach Bundesland und Gefängnis. Und, dass es Orte gibt, an denen die Behandlung kranker Straftäter*innen funktioniert.
„Es wird immer schlimmer“
Samuel Kolani wuchs in einem westafrikanischen Land auf. Seine Mutter arbeitete als Verkäuferin. Doch das Geld reichte kaum zum Leben. Während politischer Unruhen schlugen Soldaten seine Mutter zusammen. Kolani musste zusehen. Als ein Talentscout entdeckte, wie gut er Fußball spielte, zog er in verschiedene afrikanische und asiatische Staaten. Mit 16 kehrte er zurück, weil seine Mutter krank war. Sie starb, während er neben ihr saß. Seitdem leidet Kolani an Schlafproblemen.
Als junger Erwachsener zog er erst zu seinem Vater nach Frankreich, dann nach Hamburg. In der Hansestadt lernte er Deutsch und spielte wieder Fußball. 2015 tötete er einen Menschen. Das Hamburger Landgericht verurteilte ihn wegen Mordes. Kolani ist der Meinung, es war Totschlag, denn er habe im Affekt gehandelt. Er ging mehrfach in Revision, ohne Erfolg.
Er bekam eine lebenslange Haftstrafe. Mindestens 15 Jahre muss er absitzen. 2017 kam er in die Sozialtherapeutischen Anstalt in Hamburg. Im gleichen Jahr kamen die Anfälle. In einem kleinen schwarzen Buch notiert er seit einigen Jahren jeden Anfall. Über mehrere Seiten hat er jedes Datum aufgelistet. Manchmal steht „Kopfverletzung“ oder „Kieferbruch“ daneben. Kurz vor den Anfällen habe Kolani oft Flashbacks, denke an seine Kindheit und fühle sich traurig, berichtet er. „Es wird immer schlimmer. Ich versuche durchzuhalten“, sagt er am Telefon. Hier im Gefängnis werde er nicht ausreichend versorgt, davon ist er überzeugt.
Die Leiterin des Gefängnisses Christina Schermaul hingegen betont, dass die Anstalt einiges versucht habe. Erst wollte sie klären, ob es sich um epileptische Anfälle handelt. Denn diese sehen so ähnlich aus wie psychogene Krampfanfälle. Die Gefängnisleitung ließ Kolani in ein Epilepsiezentrum überstellen. Er sollte zwei Wochen bleiben, doch er brach die Behandlung nach sechs Tagen ab. Er könne sich nicht konzentrieren, wenn ein Justizvollzugsbeamter neben seinem Bett sitze, erklärt Kolani.
Das Hamburger Gefängnis geht davon aus, dass Kolani Epilepsie und eine posttraumatische Belastungsstörung hat. So steht es in seiner Patientenakte. Also bekam er Tabletten gegen Epilepsie verabreicht. „Die haben es schlimmer gemacht“, sagt Kolani. Also setzte er sie ab. „Ich habe keine Epilepsie!“
Befunde aus verschiedenen Hamburger Krankenhäusern, die wir einsehen konnten, geben Kolani recht. Sie gehen von psychogenen nicht-epileptischen Anfällen aus. Seine Erkrankung könnte auf traumatische Erlebnisse in seiner Kindheit zurückgehen.
Während sein Körper krampft, schlägt er sich ein Stück seines Schneidezahns aus
Laut Lehrmaterial, das wir über das Informationsfreiheitsgesetz befreit haben, werden Vollzugsbeamt*innen in Hamburger Gefängnissen kaum zum Umgang mit den Folgen von Traumata geschult. In den Unterlagen finden sich Präsentationen und Übungen, wie man mit Depressionen und Persönlichkeitsstörungen umgeht, wie man gewaltfrei kommuniziert und reagiert, wenn ein Gefangener Suizidabsichten äußert. Traumata, deren Folgen und den Umgang damit werden nur an zwei Stellen kurz erwähnt.
Erwähnung von Trauma
Das liegt vor allem daran, dass Fortbildungen im Bereich der Psychologie häufig außerhalb des gewöhnlichen Ausbildungslehrplans stattfinden. Zuständig dafür ist der psychologische Dienst, der im engen Austausch mit den Vollzugsbeamt*innen stehe, erklärt Elisabeth Steffens. Sie ist Fachreferentin für Psychologie und Behandlung im Vollzug in Hamburg. Weil die psychologische Fortbildungen extern stattfinden, kommen sie in den angefragten Dokumenten nicht vor. „Psychische Erkrankungen sind ein großes Thema – seit Jahren“, sagt Steffens. Der Hamburger Vollzug engagiere sich sehr und übernehme auch etwa die Ausbildungskosten für spezielle Therapien zur Behandlung von Traumafolgestörungen.
Im Juli dieses Jahres hat Kolani einen heftigen Anfall. Während sein Körper krampft, schlägt er sich seine Lippe auf, ein Stück seines Schneidezahns aus und bricht sich die Nase. Er kommt in ein Hamburger Krankenhaus und wird am Mund operiert. Dann bekommt er Schmerztabletten und Nasentropfen – und wird zurück ins Gefängnis gebracht.
25 Therapeut*innen angefragt – niemand will
In der Regel arbeiten Psycholog*innen in Gefängnissen. Sie müssen lediglich das Hochschulstudium abgeschlossen haben. Die anschließende mehrjährige therapeutische Ausbildung und eine Berufszulassung nach dem Psychotherapeutengesetz brauchen sie nicht zwangsweise. Die Gefängnisse suchen so dringend nach Personal, dass sie auf diese Qualifikation im Zweifel verzichten. In den Ausschreibungen steht nur, dass es „wünschenswert“ sei. Draußen, also jenseits der Gefängnismauern, wären Ausbildung und Berufszulassung Pflicht, um therapeutisch zu arbeiten.
Kolani sieht regelmäßig eine Psychologin, die im Gefängnis arbeitet. Neben der psychologischen Sprechstunde wollte das Hamburger Gefängnis ihm zusätzlich eine Traumatherapie anbieten. „Wir haben 25 Therapeuten angerufen oder angeschrieben“, sagt die Anstaltsleiterin Christina Schermaul. Niemand wollte. „Sie hatten keine Kapazitäten oder wollten nicht mit Tätern arbeiten.“ Schließlich fand die Anstalt doch eine Traumatherapeutin. Aber Kolani und sie verstehen sich nicht. Es ist normal, sich nicht mit jeder*m Therapeut*in gut zu verstehen. Doch im Gefängnis hat man keine Wahl.
Einige erkranken im Gefängnis
Neben Psychotherapeut*innen mangelt es auch an Psychiater*innen, sprich Ärzt*innen, die Medikamente verschreiben dürfen. In Bayern etwa, im Gefängnis Straubing, sind seit drei Jahren zwei Stellen ausgeschrieben. Gregor Groß ist der einzige Psychiater in der Anstalt – und einer von zwei Gefängnispsychiatern in ganz Bayern. Er ist Mitglied der Expertenkommission “Gefängnispsychiatrie” der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Diese Kommission untersuchte erstmals ausführlich, wie viele Gefangene in Deutschland wegen psychischer Probleme versorgt werden müssen. „Ich würde – grob geschätzt – davon ausgehen, dass etwa die Hälfte der Gefangenen eine behandlungsbedürftige psychische Störung hat“, sagt Groß. Andere Expert*innen gehen von bis zu 88 Prozent aus.
Während einige Menschen schon krank in den Strafvollzug kommen, erkranken andere erst im Gefängnis. Wie viele das sind, ist unklar. Es gibt keine aktuellen Untersuchungen dazu. Groß kritisiert, dass psychisch Erkrankte in vielen Gefängnissen nicht ausreichend versorgt werden: „Ein Herzinfarkt kommt relativ schnell zur Versorgung und wird dann auch entsprechend behandelt. Bei psychischen Störungen sehe ich oft große Lücken.“
Solche Lücken dürfte es nicht geben. Denn Gefangene müssen genauso medizinisch und therapeutisch versorgt werden wie alle gesetzlich Krankenversicherten, die jenseits der Gefängnismauern leben. Das sogenannte Äquivalenz-Prinzip schreibt eine gleichwertige Behandlung vor. Können Insass*innen nicht ausreichend versorgt werden, muss das Gefängnis sie in eine psychatrische Abteilung eines Krankenhauses bringen. Doch laut einer aktuellen Umfrage der Psychiatrie-Gesellschaft (DGPPN) kamen von 1.500 Gefangenen, die eine vollstationäre psychiatrische Behandlung benötigten, lediglich die Hälfte dorthin.
„Die Versorgung unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland“, sagt Gefängnispsychiater Groß. In manchen Gefängnissen würden psychisch kranke Gefangene tatsächlich behandelt wie in Freiheit, in anderen nicht. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen: Die Gesundheitsversorgung von Gefangenen bezahlen die Justizministerien. Sie haben unterschiedlich große Budgets. Hinzu kommt, dass viele Gefängnisse zu wenig Personal haben. Ob Gefangene mit ihren Beschwerden ernst genommen werden, hängt manchmal von einzelnen Beamt*innen, Psycholog*innen oder Ärzt*innen ab.
An einem Morgen im September krampft Kolanis Körper wieder. „Ich bin aufgestanden, habe meine Hose angezogen und wollte mich für die Arbeit fertig machen“, erzählt er. „Was danach passiert ist, weiß ich nicht.“ Nach Aufzeichnungen des Hamburger Gefängnisses war es so: Als die Gefangenen zur Arbeit ausrücken, fällt auf, dass Kolani fehlt. Ein Beamter läuft zu seiner Zelle und findet Kolani halb liegend, halb sitzend mit Verletzungen im Gesicht.
Kolani wacht erst im Krankenwagen auf. Als wir ihn einige Wochen später im Gefängnis mit ihm sprechen, tut sein Nacken noch weh. Auch seine Zunge fühle sich taub an, sagt Kolani. Über seine Lippe ziehen sich mehrere Narben, eine ist frisch.
Mehr psychisch Kranke, mehr Isolierungen
Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter besucht regelmäßig Gefängnisse und prüft, ob diese menschenrechtliche Standards einhalten. Sie beobachtet: Die Gefängnisse reagieren auf mehr Gefangene mit psychiatrischen Erkrankungen mit mehr Isolierungen in „besonders gesicherten Hafträumen“. Das sind spezielle Zellen, in denen es nichts gibt – außer einer Matratze, einer Toilette und einer Kamera in der Ecke.
Tatsächlich stieg die Zahl der Isolationen in den „besonders gesicherten Hafträumen“ in den vergangenen Jahren – besonders stark in Bremen, Würzburg und Augsburg-Gablingen. Das ergab eine Recherche, bei der wir erstmals Zahlen aus ganz Deutschland zusammengetragen und ausgewertet haben.
Wie hat sich die „Bunker-Situation“ entwickelt?
Die Prozentangabe beschreibt das Verhältnis der Isolierungen in Bezug auf die durchschnittliche Gefangenenzahl pro Jahr. Die Entwicklung geht über die Jahre 2019 bis 2023.
Wie es aussehen kann, wenn Gefangene im Wahn in den „besonders gesicherten Haftraum“ müssen, beschreiben Berichte aus Mecklenburg-Vorpommern: „Der [Strafgefangene] zeigte sich im Gesprächsverlauf verbal aggressiver, wurde phasenweise lauter, stampfte mit den Füßen auf dem Fußboden auf. […] Zur Abendkostausgabe hatte er seinen Kot in der Hand. Er spielt regelmäßig mit seinen Exkrementen und führt sich teilweise die Medikation in den After ein.“
Lösung: Helm
Das Hamburger Gefängnis hat Kolani im Sommer einen Helm gekauft. Es sollte eine Übergangslösung sein, um schlimmen Kopfverletzungen bei den Krampfanfällen vorzubeugen. Der Helm drücke auf seinen Kopf, sagt Kolani. Er könne damit nicht schlafen. Nach kurzer Zeit trägt er den Helm nicht mehr.
Dass sich keine Lösung für Kolani finde, liege daran, dass er nicht mitarbeite, sagt die Hamburger Gefängnisleiterin Christina Schermaul. Sie habe Kolani einen mobilen Notfallknopf angeboten. Der Gedanke: Wenn ein Anfall kommt, kann er damit schneller um Hilfe rufen. Zwar hat jede Zelle einen Notfallknopf, allerdings fest in die Wand eingebaut. Ein mobiler Knopf wäre leichter zu erreichen. Kolani lehnte den Knopf ab, weil er nutzlos für ihn sei. „Die Idee ist cool. Aber wenn ein Anfall kommt, bin ich nicht in der Lage, den Knopf zu drücken. Ich verliere das Bewusstsein“, sagt er.
Kolanis Fall zeigt auch, wie schlecht der Strafvollzug auf komplexe psychische Krankheitsbilder vorbereitet ist. „Wir können ja nicht einfach die Tür aufmachen und sagen: Hier ist die Adresse des Krankenhauses. Da muss natürlich ein Bediensteter mit dabei sein“, sagt Anstaltsleiterin Schermaul. Dass im Justizvollzug neben Psycholog*innen und Psychiater*innen, auch Vollzugsbedienstete fehlen, macht es noch schwieriger.
Es geht auch anders
Dass es anders geht, zeigt die Justizvollzugsanstalt Leipzig. Dort wurde ein Suizidpräventionsraum geschaffen. Es ist ein heller Raum mit Fenstern, aber auch Jalousien, um Privatsphäre schaffen zu können. In den Raum kommen Gefangene, die Suizidgedanken äußern, jedoch nicht akut suizidal sind. Sie werden dauerhaft beobachtet und psychologisch betreut. Früher wären sie in den „besonders gesicherten Haftraum“ gekommen, die im Gefängnisjargon als „Bunker“ bezeichnet werden.
Die Justizvollzugsanstalt Neumünster geht noch weiter: Sie hat eine psychiatrische Tagesklinik im Gefängnis. Dort gibt es Stuhlkreise, Yogamatten und eine Tischtennisplatte. Es ähnelt einer Reha-Klinik mit Gittern an den Fenstern. In der Tagesklinik Neumünster gibt es 21 Plätze für Gefangene aus ganz Schleswig-Holstein. Sechs bis acht Wochen lang werden sie hier behandelt – etwa wegen Depressionen, Panikattacken, Traumafolgen oder Suchterkrankungen. Die Delikte der Patiente*innen reichen von Ersatzfreiheitsstrafen bis Mord.
Mit therapeutischen Einzelgesprächen, Sport und Ergotherapie gewinnen die Gefangenen in Neumünster Lebensqualität zurück. Ziel der Klinik ist es auch, Insassen wieder „haftfähig“ zu machen – sie eben so weit zu stabilisieren, dass sie im Haftalltag funktionieren. Es ist die einzige Gefängnisstation dieser Art in Deutschland. Die Gefangenen werden hier auch als Patient*innen gesehen. Es ist etwas, das sich auch Kolani wünscht: Nicht nur Strafgefangener, sondern auch Patient sein.
→ Anfragen zur Gesundheitsversorgung im Gefängnis
→ Dokumente zur Gesundheitsversorgung im Gefängnis
→ Deutschlandfunk Kultur: Psychisch krank im Gefängnis